Otl Aicher

Vita

In Überein­stimmung mit sich selbst

Otto „Otl“ Aicher wurde am 13. Mai 1922 in Ulm geboren und starb am 1. September 1991 in Günzburg an den Folgen eines Verkehrsunfalls in Rotis.

Nach den unruhigen Kriegsjahren gründete er zusammen mit seiner Frau Inge Aicher-Scholl – Schwester der von den Nazis ermordeten Freiheitskämpfern Hans und Sophie Scholl – und dem Architekten und Künstler Max Bill 1953 die Hochschule für Gestaltung (HfG) in Ulm. Als Dozent und zeitweiliger Rektor leitete er die Abteilung Visuelle Kommunikation. Er setzte Maßstäbe im Bereich der grafischen Gestaltung und entwickelte mit der Gruppe „E5“ einflussreiche visuelle Erscheinungsbilder für die Firmen Braun und Lufthansa.

1968 wurde er mit der Gestaltung der Olympischen Spiele in München (1972) beauftragt. Sein dafür entwickeltes Zeichensystem von Piktogrammen als Wegweiser und das Emblem des Strahlenkranzes mit überlagerter Spirale schrieb Design-Geschichte. Aichers Design-Konzepte, wie das für die Bayerische Rückversicherung, den Flughafen Frankfurt und für die Firmen bulthaup, ERCO Leuchten und FSB sind wegbereitend für die Idee vom Corporate Design als visuellem Teil der Unternehmens­identität.

Anfang der 70er Jahre zog er mit seiner Familie nach Rotis im Allgäu. Auf dem Gelände einer alten Mühle entwarf er Atelierhäuser für seine Bürogemeinschaft und gründete dort 1984 das Institut für analoge Studien. Neben der Entwicklung der Schriftfamilie Rotis und der Abwicklung von Aufträgen der Visuellen Kommunikation verfasste Aicher zahlreiche kulturkritische Texte und Bücher.

Der Werknachlass Otl Aichers wurde im Sommer 1996 von der Familie Aicher-Scholl an das Ulmer Museum / HFG-Archiv übergeben und in Form einer komplexen Datenbank wissenschaftlich aufgearbeitet.

Otl Aicher
& Rotis

Rotis,
der Ort

Nach Ende der Olympischen Spiele 1972 zieht Otl Aicher mit seiner Familie von Ulm ins Allgäu: in den kleinen Weiler Rotis nahe Leutkirch, wo er auf einem vier Hektar großen Anwesen seine Vision von Wohnen und Arbeiten verwirklicht. Aus einem ehemaligen landwirtschaftlichen Komplex aus Bauernhaus, Mühle, Säge, Stallungen, Käserei und Kraftwerk entsteht ein inspirierender Ort – eine Art Enklave, konzipiert für sich und seine Familie und für alle mit visueller Kommunikation befassten Professionist*innen.

Die beiden Hauptgebäude werden saniert, Studios für Aicher selbst, für Fotografie und Druck als voneinander unabhängige Bauten kommen neu hinzu. Die Gebäude sind eingebettet in einen nach englischem Vorbild angelegten Landschaftsgarten, mit ausgedehnten Wiesen und Hainen, mit Gemüse-, Kräuter- und Blumengärten.

Der Kuhstall mit dem historischen Gewölbe wird zur „Rôtisserie“, zum geselligen Gemeinschaftsraum und rustikalen Empfangssaal. Hier wird gemeinsam zu Mittag gegessen, alljährlich das „Bohnenfest“ gefeiert und werden Firmenvorstände empfangen.

Selbermachen ist in der „autonomen Republik“ Rotis Prinzip: Stromgewinnung aus Wasserkraft, das Pilzesammeln im Wald, auch das Ernten von Kräutern und Gemüse, das Kochen. Der Allgäuer Kälte trotzend, prägen im Küchengarten Hochbeete das Bild. Sie sind Prototypen, genauso wie die „Küche zum Kochen“ im Haupthaus der Familie.

In diesem bewusst abgesteckten Raum befasst sich Aicher – neben den Aufträgen für große Unternehmen, neben der Entwicklung der kommerziellen Schrift Rotis oder der Gestaltung von Ausstellungen – auch mit der visuellen Kommunikation kleiner Kulturstädte, unter anderem mit dem Erscheinungsbild der nahegelegenen ehemaligen Reichsstadt Isny.

Rotis,
die Schrift

Nach dem Ort mitten im Allgäu benannt, in dem er lebte und arbeitet, wurde die Rotis die einzige kommerzielle Schrift, die Otl Aicher während seiner weitreichenden Designkarriere veröffentlichte.

1987 schreibt Aicher, er glaube, dass Lesegewohnheiten sich geändert hätten: Da Menschen weniger Zeit und Muße als früher hatten, würden sie nicht mehr so lesen wie früher. Er fragte sich, ob es eine Schrift gab, die sich einfacher und schneller als die Vorhandenen las. Rotis war seine Antwort.

Die Schrift hat ein schlankes Erscheinungsbild und zeichnet sich durch ihre organische Form aus, die dem humanistischen Formenkanon entspricht. Die Buchstaben stehen in Beziehung zur Richtung des Lesens und Schreibens. Im kleinen „c“ und „e“ lässt sich dieser Schriftschwung deutlich erkennen.

Rotis ist besonders bemerkenswert, da es sich um ein System aus vier verwandten Schriftfamilien handelt: Rotis Grotesk, Rotis Semigrotesk, Rotis Semiantiqua und Rotis Antiqua. Mit ihnen bot Rotis ein Spektrum an Buchstabenformen, das Variationen verschiedener Essenzen bzw. Kontraste zuließ.

Mit der Veröffentlichung der Schriftschnitte durch Agfa-Compugraphic konnte auf einmal jeder Grafikdesigner Aichers Schriften verwenden.

Auch heute ist die Rotis nicht aus der Mode gekommen und wird in vielen Bereichen des Grafikdesigns weltweit verwendet. Seit 1996 ist die Rotis die Hausschrift der Stadt Isny im Allgäu.

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Aicher und die
HfG in Ulm

Gemeinsam mit seiner Frau Inge Scholl und dem Schweizer Künstler und Architekten Max Bill gründete Otl Aicher 1953 die Hochschule für Gestaltung (HfG) in Ulm. Von 1955 bis 1968 wird hier, in naher Beziehung zur Industrie, eine neue Generation von Designern ausgebildet. Die Lehrmethoden basieren auf sozialen und politischen Theorien, folgen einem wissenschafts­orientierten Lehrkonzept. Das Wahrnehmen einer gesellschafts­politischen Verantwortung, das gehörte nach Aicher zum Berufsbild eines Designers dazu. Dieser sollte etwas von Moral und Politik verstehen und sich bewusst sein über den Einfluss, den Design auf die Welt ausüben kann. In den Entscheidungs­prozessen einer industriellen Produktion sieht er den Designer (die Studierenden in Ulm waren vorwiegend männlich) als gleichwertigen Partner und nicht als übergeordneten Künstler. In der Abteilung Visuelle Kommunikation war Aicher Dozent für Typographie, Chemigrafie, Drucktechnik und grafische Gestaltung. In der Frage, wie Kommunikation funktioniert, bildeten neue zeichentheoretische Erkenntnisse eine Grundlage. Aicher´s Anforderungen an die Studenten waren hoch und sein Qualitätsanspruch hat die HfG geprägt.

Das Ulmer Modell wurde zum Vorbild einer modernen Design­ausbildung, zum Synonym eines modernen Produktdesigns – auch wenn sich Theorie und Wirklichkeit nicht immer deckten.

„Gut“ meinte ästhetisch einfach und funktional, ohne überflüssigen Dekor, gesellschaftlich nützlich und nachhaltig. Dahinter stand eine Design­theorie, die den Gebrauch eines Gegenstands oder eines Zeichens in seiner sozialen Dimension erfasste. Am Markt sollte Design nicht zum Kauf verführen, sondern ein Mittel der Aufklärung und Orientierung sein.

Einige Projekte hat Aicher zusammen mit einem festen Team von Fachleuten und Studenten in der Arbeits- und Entwicklungs­gruppe E5 verwirklicht. Anfänglich waren es kleinere Aufträge, wie die Erscheinungs­bilder für die Stadt Ulm anlässlich der 1000-Jahr-Feier, für die Volks­hochschule Ulm (vh) oder für kleine Theater. In Folge kommen größere Aufträge für Industrieunternehmen wie Braun, BASF oder der deutschen Lufthansa hinzu. Nach der Schließung der HfG im Jahr 1968 werden in der E5 gestartete Aufträge teils weitergeführt und weiterentwickelt. So nahm beispielsweise die Luftbild­fotografie hier ihren Anfang. Parallel zu den Aufträgen hält Aicher sein Denken und Tun zeitlebens in Schriften und Aufsätzen, Vorträgen und Seminaren fest. Viele dieser Schriften wie „die welt als entwurf“ und „analog und digital“ erscheinen posthum.

Text: Renate Breusss
Quellen: HfG Archiv Ulm, Eva Moser, „otl aicher, Gestalter“

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Annäherung
durch den Garten

Katharina Adler

Wenn der Schnee in den Winterabend fällt, lohnt es sich nach Rotis zu gehen. Dann entfaltet das helle Licht, das in den uralten Eschenkronen befestigt ist, seinen Zauber. Die Lampe ist nach oben gerichtet, sie scheint den Schnee in sich zu versammeln. Aus allen Richtungen stieben die Flocken ind diese Lichtmitte.

Wenn’s Kindslumpen schneit, so heißen im Allgäu die großen, nassen Flocken, ist außer dem Geäst der Eschen nichts zu sehen. Sind die Flocken aber eisig und winzig, lassen sich im Hintergrund die Konturen von Gebäuden erkennen. Ruhig liegt das breite Wohnhaus hinter dem Schneeschleier, nur wenige der Fenster sind erleuchtet.

Zwischen den Eschen steht ein altes steinernes Wegkreuz. Ihm zu Ehren wurden wohl vor Jahrhunderten diese Bäume gepflanzt. Da sie Yggdrasilgröße erreichten, wirken die Kronen wie die alles beschützende Arme der Weltesche.

Auch der Sommergast darf mit erstaunlicher Ankunft in Rotis rechnen. Vor allem, wenn er den Eingang am Südende des Grundstücks wählt, dort, wo Wiese, Wald und Bach zusammentreffen. Es ist ein heimlicher Eingang, ein Pfad über die grüne Grenze.

Gleich trifft man hier auf ein Wegmal aus alter Zeit: Ein Bildstöckel mit Marienbild steht am Ufer des Baches. Der Bach zeigt sich ausgeruht, maßvoll strömt er dahin. Nur die kunstvoll mit Weidengeflecht befestigten Ufer des Bachbettes lassen vermuten, daß sich hier zu Regenzeiten reißende Kraft entfaltet. Die Eichen stehen ungerührt in mächtiger Fülle, die Erlen lassen dem Bach auf gilbenden Blättern vielleicht erste Herbstbotschaften zukommen. Ein Zaunkönig hüpft schweifschwingend auf den Berberitzen.

Drüben, jenseits des Baches sind die Pfade moosig weich, der Wald verdichtet sich, Bärlapp kriecht über den Boden, Engelwurz überragt die niedrigen Farne, aufgeschreckte Vögel verständigen sich. Plötzlich, bei zunehmenden Urwaldgefühl, tauschen inmitten der Verwachsenheit drei wohlgeformte Stühle auf. Gartenstühle, wie Mulden eingelassen in einen Teppich von brennendem Hahnenfuß, Giersch, Gänsefingerkraut und Mädesüß. Da keine Spur zu den Stühlen führt, wirken sie wie ein Bühnenbild, bereitgestellt für Lears Töchter oder die Hexen aus Macbeth. Die Stille ist vollkommen, man härt das Gras wachsen. Dann ein Schreck, der durch alle Knochen fährt: Flugzeuge auf dem Übungsflug – „die Heimat zu beschützen“.

Schnell heraus aus dem dunklen Wald. Am Wehr stürzt der Bach in ein tieferes Bett, bizarres Geäst eines alten Weidenstammes belebt das Wasser. Vergißmeinnicht und Brunnenkresse säumen die Ufer. Samenschwer beugen sich die Brennesseln, und die Weidenröslein lassen ihre Federn fliegen. Auch ein Grillplatz liegt zwischen Wald und Bach. Vermooste Stämme lagern da neben frischen, brennbereiten Holzstößen.

Jetzt kommen wieder die Gebäude in Sicht, ehrwürdig alte und kühne neue, eingelassen in ein weites Feld grüner Wiesen. An den Hintereingängen muß man sich behende vorbeischlängeln und so tun, als haben man immer nur den Vordereingang in Sinn gehabt. Jenen mit den hohen Eschen, die im Licht des Winterabends ihr großes Traumleben führen.

Noch vor jenen Eschen, nämlich jenseits der kleinen Straße, liegt hinter einem Windschutzwall der Gemüsegarten, lebendig eingehagt von jungen Lärchen, Weiden, Erlen, Eschen. Auch der Bach hilft mit bei der Umgrenzung. Üppige Kürbisse bedecken die Komposthaufen. Der Geräteschuppen, ein offener Verschlag, vom Wind durchweht, wird von einer Tomatenpflanze geschmückt, deren Früchte weithin leuchten. Der Garten hat ein sehr eigenes Gesicht. Es gibt zwar die üblichen Beete mit Lauch, Spinat, Rapunzeln und Grünkohl, aber geprägt wird das Gartengesicht von Hochbeeten, die das mühsame Bücken ersparen. Ein praktischer Beitrag, die Allgäuer Mentalität zu verändern, die, gedemütigt von vielen Herren, in dem noch häufig zu hörenden Satz gipfelt: „Der Mensch muß sich bucken.“

Experiment von Allgäuer Erfahrungen, denn wo Wiesen dominieren, brauchen Beete eine starke Abgrenzung, um sich vor Überwachsung zu sichern. Und da die meisten der Hochbeete eine lichtdurchlässige Schutzhaube tragen, trotzt das Wachstum der Allgäuer Kälte.

Stachelbeeren reifen hier nicht an bodennahen Büschen, sie wachsen auf kleinen Bäumen, die geradlinig aneinandergereiht vom hohen Sinn für Ordnung künden. Auch Sellerie und Schwarzwurzeln bilden kerzengerade Alleen. Selbst die Gießkannen harren ausgerichtet und lassen wissen, daß aus diesem Gartengeviert das Chaos verbannt ist.

Schließlich ist ein Garten ein der Wildnis entrissenes Land. Die vorgermanische, ja indogermanische Herkunft des Wortes verweist auf Gehege, Umfriedung eingefriedeter Raum.

Mit Fleiß gepflegt wird nicht nur vertrautes Gemüse, auch südländischen Salaten wird zum Gedeihen verholfen. Sogar Sämlinge von Eßkastaninen sprießen hier, um im Allgäu heimisch zu werden.

Eine breite Holzbank, grauschimmernd, lockt zur Rast. Am Brunnentrog schleicht langsam eine grünschwarze Raupe hoch, jenseits des Baches umflattern Schmetterlinge die Distelbüsche.

Drüben, nahe beim Haus, gibt es einen Garten eigens für Gewürzkräuter und Blumen. Da herrscht duftende Vielfalt. Von erlesenen Rosen bis zur winzigen Strohblume, vom Estragon bis zum Ysop, hier ist alles versammelt, was dem Alltag Würze verleiht.

Hinter dem Kräutergarten beginnt der junge Lärchenwald, durch den ein Moospfad führt. Da wird manchmal, im hohen Sommer, der Tisch für Gäste gedeckt. Es kommt vor, daß Evchen Gitarre spielt und der Thymianduft vom Kräutergarten herüberweht. Es kommt vor, daß dabei von Vergil geredet wird. Einfach so. Schließlich hat der Mann etwas verstanden vom Landleben.

Katharina Adler, Schriftstellerin, Autorin des Buchs
„Aicher, Otl; Adler, Katharina (2008): Das Allgäu (bei Isny)“