Haben wir nicht zurückhaltbaren Heißhunger oder doch genug disziplinierte Solidarität?

Heute müssen Dinge erwähnt werden, die keiner hören möchte. Die Auswahl scheint momentan groß, mir geht es aber um einen Begriff, der auch abseits von Corona nicht für Begeisterungsausbrüche sorgt: Diätprogramm.

Jetzt nicht gleich weg laufen! Ich schwöre, ich stelle hier keinen Abnehmplan vor. (Allerdings frage ich mich schon, warum alle von verpassten und hinausgeschobenen Friseurbesuchen reden und Sorge haben sich aufgrund der Haarlänge nicht mehr wiederzuerkennen. Ich befürchte eher, dass man aus anderen, kontra-diätischen Gründen nicht mehr erkannt wird.)

Man kennt das – 10 Minuten nach dem heimlichen, sowohl peinlichen als auch sehnsüchtigen Gang zum Kühlschrank, schwört man Besserung. Morgen nicht nochmal, morgen fange ich stattdessen endlich das raus gesuchte Sportprogramm an, morgen verzichte ich auf Kuchen, morgen werde ich diesem ganzen „Bleiben-Sie-auch-Zuhause-fit“ Zeug gerecht.
Sich ein paar Wochen zusammenreißen und dann reichts aber auch mal, dann ist es auch wieder gut, dann ist Schluss mit dem Zurücknehmen. Das klingt bekannt? 7 Wochen Restriktion und Regeln, jetzt aber endlich Lockerungen & Lohn für die vergangenen Wochen.

Was dann folgt? Momentchen, ahja, hier, ich habs, Diätprogramm Woche 8, da steht dick unterstrichen: „Halten Sie jetzt durch, wenn sie keinen Bumerang-Effekt riskieren möchten. Dranbleiben!“
Setzten wir Solidarität mit sportlicher Motivation gleich: Wenn man wirklich abnehmen will, dann sollte die sportliche Motivation dauerhafter sein als ein paar Wochen. Wenn man wirklich eine Krise eindämmen will, sollte die Solidarität länger anhalten als ein paar Wochen.

Das soll nicht vorwürflich klingen. Wir alle haben unmotivierte Tage, gelegentlichen Heißhunger auf Schokolade, obwohl man es heute doch lassen wollte, Muskelkater nach intensiven Einheiten. Lockerungsübungen tun gut, aber wer zu lange alles auflockert, der braucht ungleich mehr Zeit, um seine Muskeln wieder richtig warm zu bekommen. (Oder so ähnlich. Sport ist nicht mein Spezialgebiet.) Dass wir über Lockerungen der Maßnahmen, die vielleicht am Anfang der Krise nötig waren und nun überdacht werden können, diskutieren können ist selbstverständlich. Wir befinden uns in der Mitte eines unbekannten Prozesses, in dem wir immer wieder erneuern, hinterfragen und debattieren sollten. Niemand lässt das ganze Jahr über das Kalenderblatt des Januars hängen, wenn schon August ist und strahlende Sonne. Ein anderer Zeitpunkt erfordert andere Maßnahmen.
Fest steht allerdings auch: Mit zu ausgedehnten Lockerungen riskieren wir einen Bumerang Effekt. Und dass der auch jede noch so schöne, zuvor abgegebene Figur entrücken kann, sollte uns bewusst sein.

Wir leben in einem freien, demokratischen Staat. Das ist wichtig, das ist richtig, das ist schützenswert und das ist ein Privileg. Wir dürfen in Frage stellen, protestieren und uns kritisch äußern. Das sollten wir auch.

17. Mai 2019 – auf dem Kornhausplatz in Leutkirch findet eine FFF-Demo statt. Es sind etwa 400 Leute da, wir sind friedlich, halten uns an die Vorgaben, es ist sonnig. In den Tagen darauf erscheint ein Zeitungsartikel und darunter hagelt es aufgebrachte Kommentare, von „nur Schulschwänzer!“ bis „an den Tatsachen vorbei“ ist alles dabei. So ist das nicht nur bei den kleinen, ländlichen Demos hier – die Gegenstimmen, die Aufruhr, all die konträren Kommentare zu der Richtigkeit der FFF-Aktionen hat sehr wahrscheinlich jeder noch im Ohr. Die Demos gehen weiter und ganz egal, was man nun persönlich davon hält, egal ob man ein Befürworter oder ein aufgeregter Gegner ist – schaden tun sie direkt keinem.

Ein knappes Jahr später: Wieder sind Menschen auf der Straße. Mit dem Unterschied, dass jetzt nicht „Climate Strike“ sondern „GG20“ gebrüllt wird. Mit dem Unterschied, dass es um Pandemie-Maßnahmen geht, nicht um Klimaschutz. Mit dem Unterschied, dass nun Leute zu Schaden kommen. Dabei geht es mir weniger um polizeiliche Ausschreitungen oder Randale, es geht mir eher um eine große (=virenversammelnde), dicht zusammengedrängte (=virenverteilende), schreiende (=virenausspuckende) Menschenmenge.

Jetzt kann man natürlich zu Recht sagen: „Aber was schreibt sie denn, aber doch nicht hier, aber doch nicht wir, aber doch nicht in unserem beschaulichen Isny!“

Was in München eine wutentbrannte Demonstration ist, ähnelt hier vielleicht eher einer trotzigen Gartenparty in der Nachbarschaft. Während in Hamburg entgegen der Vorschriften protestiert wird, tut man in der Provinz zum Protest auch mal keinen Abstand halten. Was in Berlin zu einem Sammelbecken aller Nicht-Verstehen-Wollenden wird, ist hier nur ein demonstrativ maskenfreier Einkauf, der im Laden gebilligt wird. Aber was ist das für ein ‚nur‘, wenn es um ein erhöhtes Risiko, um eine vermeidbare Gefahr, eine schlicht fehlende Rücksichtnahme geht.

Lasst uns bitte alle diese schrecklichen Workouts machen, probieren wir die ewig gleichen Bananenbrot-Rezepte aus, schauen wir alle fremdschämend Oliver Pocher im Fernsehen zu – aber bleiben wir daheim.
Lasst uns nicht gleich an der ganzen Hand reißen, weil man uns den kleinen, desinfizierten Finger reicht.
Lasst uns keinen Bumerang-Effekt riskieren, wenn wir auch „die nachhaltig gute Figur“ erhalten können.

3 Comments

  • Oliver sagt:

    Rumms. – das hat gesessen. Danke Charlotte.

  • Beziehen Sie sich bei dem sog. „Bumerang-Effekt“ auf die Sozialpsychologie nach Hovland und Kelly, sowie auf die psychologische Reaktanztheorie nach Brehm, oder nutzen Sie diesen Terminus in Verwendung einer rhetorischen Figur? Im Sinne Ihres Textes scheinen Sie sich eher auf den Jo-Jo-Effekt zu beziehen, dennoch weicht Ihre Argumentation weitläufig von der gängigen Konnotation ab. Falls Sie einen eigene Definition des sog. „Bumerang-Effekt[s]“ haben wäre es ein Plaisir, wenn Sie diese nachreichen könnten. Ansonsten ein gelungenes Potpourri.

    • Charly Florack sagt:

      Hallo Herr Steiner,
      ich habe den Begriff eher als rhetorische Figur verwendet. Sicher hätte man auch „Jojo-Effekt“ schreiben können, allerdings erschien mir Bumerang da aussagekräftiger. Schließlich kann man ja davon ausgehen, dass (unter Umständen) Fehlverhalten auf uns zurückkommt, also eher wie ein Bumerang. Ein Jojo, der ja ständig auf und ab geht, scheint mir da weniger passend, denn bezogen auf die Virusverbreitung ist ja hier mit ein paar größeren Wellen zu rechnen, als mit vielen kleinen….
      Liebe Grüße!

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