Unausweichliches Tief oder tiefenentspannte Vorbereitung?

Sophie Passmann schreibt in etwa auf Instagram: „Sorry an alle Charlottes und Jonathans, die trotz der Umstände ihr Abi schreiben müssen. Regt euch nicht so auf.“
Ich, als sonstiger Fan Passmanns, fühle mich davon direkt angegriffen, bin kurzfristig empört, obwohl es nur ein dummer Name, ein bloßes Beispiel ist. Hätte ich mich angestellt, wenn meine Situation letztes Jahr dieselbe gewesen wäre? Hätte ich so Abi schreiben wollen, um letztlich ein „Ausnahmeabitur 2020“ in der Hand zu halten?

Mit einer gewissen Faszination verfolge ich, wie die jetzigen 12. Klässler Motivation aus Kühlschrankecken kratzen, über technische Schwierigkeiten wimmern und Ablenkung in Form von „Die nächste Episode startet automatisch in 30 Sekunden“ verfallen. Ich schwanke zwischen belächeln und bewundern.  Tatsächlich würde ich aber gerne mein eigenes Abschlusszeugnis zur Hand nehmen und hinter ‚Abitur 2019‘ mit Bleistift ‚zum Glück‘ vermerken. Jap. Hätte auch mich treffen können.

Aber es geht hier nicht nur ums Abitur. „Abitur“ ließe sich auch ersetzen mit jeder anderen Abschlussprüfung, beliebigen Studiums-Examen oder Meisterprüfung.
Es geht darum, wie man ein Ende gestaltet. Wie man den letzten Bissen nimmt, wie man einen Schlussstrich zieht, wie man den letzten Meter rennt, wenn der gewohnte Rahmen einfach zerbricht. „Wie ein Buch aus zwölf Kapiteln – die letzten Seiten jedoch ungelesen“, schreibt Kim Romagnoli, diesjährige Isnyer Abiturientin in ihrem Essay zum Thema ‚Corona-Abitur 2020‘.

Vielleicht wirkt das Thema weit weg für alle, die nun nicht in die Oberstufe gehen, keine Kinder haben, die Abitur schreiben oder für die, die andere Themen für wichtiger in dieser Krisenzeit halten. Letzteres mag stimmen – auch, wenn man das womöglich als Abiturient gerade nicht so sehen kann.

Die vermeintlich bedrohte Spezies des homo sapiens abiturens teilt sich in zwei Hälften: Einerseits sind da die Abiturienten, die sich unfair behandelt fühlen, mit Nachteilen gestraft, in der persönlichen Existenzkrise verrannt. Zurückwünschen zu dem Zeitpunkt, als irgendwelche „Kurven“ nur in Algebra eine Rolle gespielt haben, nicht so erschreckend praktisch angewandt in der Viruserforschung.
Andererseits die, die diese zusätzliche Lernzeit als Gewinn betrachten, die Selbstständigkeit erproben, Freiräume genießen und ziemlich gelassen auf ein noch offenes Ende zusteuern.
Ein Spannungsfeld, das sich zwischen „Ich sehe keinen Vorteil“ und „Ich finds ehrlich gesagt super“ bewegt.
„Ausschlafen, 10 Stunden frühstücken und sich dann irgendwann mal auf die Terrasse setzen, um ein bisschen was zu lernen. Gibt schon Schlimmeres.“ Definitiv. Vorausgesetzte Selbstständigkeit und unklare Prüfungsbedingungen mögen verunsichernd sein, so wie auch fehlender sozialer Kontakt, aber in Hinblick auf eine globale Krise ist es dann doch ein Privileg kleiner Probleme.

Inmitten des eigenständigen Lernens, der Video-Konferenzen, zwischen 500 neuen, jetzt erprobten Rezepten und rotverbrannten Versuchen des gelangweilten Sonnenbadens, wünschen sich allerdings überraschend viele „einfach wieder Normalität“. Von Vorfreude auf die Abiprüfungen ist die Rede, denn gemeinsames Sitzen und Schwitzen in einem Raum – das ist zumindest der übliche Rahmen.

Abseits der Schüler-Sehnsüchte erkennen auch die Lehrer, dass der „Ausnahmezustand zu einem Dauerzustand geworden ist“ und momentan „nichts beständiger ist als die Unbeständigkeit“. Ehrliche Worte der Isnyer Lehrer in einer schwierigen Phase.
Man versucht den gewohnten Arbeitsrhythmus der Schüler*innen zu erhalten, das selbstständige Weiterkommen zu unterstützen, doch klar wird: „Der Nutzen, den einzelne Schüler aus dem Unterricht ziehen, ist ziemlich abhängig vom Lehrer, Fach und nicht zuletzt vom Schüler selber“ – das verstärkt sich jetzt.

In der aktuellen Situation, in der Neuigkeiten einander jagen und wissenschaftliche Erkenntnisse die Fakten des Vortags zerschlagen können, fallen vor allem definitive Aussagen und Beschlüsse schwer.
Egal wie eine Lösung für die kommenden Abiprüfungen oder auch den Rest des Schuljahrs für alle anderen Klassen aussieht – es werden Variablen und Fragen bleiben.
„Was passiert, wenn eine halbe Woche vor Abibeginn ein Schüler an Covid-19 erkrankt?“
Wie sicher sind Beschlüsse, sollte sich die Kurve verändern?
Wann kann wieder regulärer Unterricht stattfinden?
Und: Ist das „Abitur 2020“ noch gerecht?

Besonders die letzte Frage scheint den Großteil aller Prüflinge zu beschäftigen. Mittlerweile ist wohl klar, dass „normal“ schon nicht mehr drin ist, dann aber doch wenigstens „gerecht“ und fair“. Mmmh. Vielleicht gehört genau das Abwägen von Ungerechtem und Gerechtem, das immer wieder neue Antworten suchen, zur diesjährigen Abiturprüfung. Die wichtigste Kompetenz wird sein, Veränderungen gelassen zu begegnen, die eigenen Ansprüche ins Verhältnis zur weltweiten Krise zu setzen und – wie auch Kim Romagnoli in ihrem Text festhält – darauf zu vertrauen, das letztlich die Bemühungen Vieler ausreichen.
Zu schade wäre es, wenn am Ende nur noch Beschuldigungen wie ein schwarzer Peter hin und her geschoben werden, in Anbetracht dessen, dass es hier doch um eine ‚Reifeprüfung‘ geht. Und trotzdem muss ich Sophie Passmann recht geben: Egal wie reif ich laut Zeugnis sein soll, hätte ich wohl auch gejammert, mich aufgeregt – zumindest ein bisschen.

Letztlich wird die gesamte Zeit einen unfreiwilligen Stempel aufgedrückt bekommen – egal ob auf Abitur, Sommerurlaub, Bachelor-Arbeit, ausgefallener Familienfeier – über allem wird einmal quer drüber stehen: 2020 war das Corona-Jahr.
Hoffen wir, dass der Abdruck über die Jahre verwischt, die Farbe ein wenig verblasst.

Danke an die gestressten Personen – Schüler wie Lehrer -, die sich trotzdem Zeit für meine Fragen genommen haben.
Zuletzt nochmals der Verweis auf Kim Romagnolis sehr lesenswerten Essay – sozusagen aus der Perspektive der Betroffenen, die zwischen „Zwangslagern und Zukunftsplänen“ zappelt.  [LINK]

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